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Sommerschnee

Berndt Seite

Hardcover, 124 S., 2020 erscheint demnächst; Bereits vorbestellbar

ISBN: 978-3-86397-134-2
Preis: 15,00 €

Sommerschnee – das sind die luftig-bauschigen Samenfasern der Pappelfrüchte, die sich im Sommer öffnen und die Welt mit ihrem weißen Flaum überziehen: Schnee in der wärmsten Jahreszeit. Mal melancholisch, mal mandelbitter, aber stets in größter Genauigkeit geht Berndt Seite auch in seinem neuen Lyrikband den Erscheinungsformen der Natur nach und lotet in ihnen die Bedingungen des Lebens aus.

Wotans Wiederkehr

Wotans Wiederkehr

Florian Russi

Die Erzählung „Wotans Wiederkehr“ erschienen 2004, ist eine Satire auf das Verhalten vieler „Wessis“ nach der Wende in den neuen Bundesländern.

Die Redaktion


Nach seiner Vertreibung durch den Gott der Christen hatte sich Allvater Wotan ver­grämt in einen entlegenen Winkel des Bayrischen Waldes zurückgezogen. Dort litt und trauerte er und ärgerte die ihm Getreuen mit seinen Launen. Nur wenige Verehrer in ganz Europa waren ihm verblieben. Einen Gott, dem nicht gehuldigt wird, geht aber die Existenz verloren.

Eines Tages kam der Rabe Hugin zu ihm geflogen und schrie aufgeregt: ,,wir sind das Volk! Wir sind das Volk!“

„Was ist mit dir?“, fragte Wotan mürrisch. „Die Grenze geht auf! Millionen Menschen, die ihren Glauben verloren hatten, dürsten nun nach einem Gott!“

„Ihr Gott und Allvater, das bin doch ich!“, antwortete Wotan erregt. Hastig rief er alle Familienangehörigen und Diener zusammen. Von der Mitte Deutschlands aus werde ich meine Wiederkehr als Gott und Vater aller Menschen vorbereiten. Freki und Geri, meine getreuen Wölfe, brecht auf und sucht für uns eine passende Heimstatt. Hugin und Munin, fliegt über das Land, zählt die Einwohner und diejenigen, die noch an mich glauben. Loki und Baldur aber, meine Brüder, zieht los und forscht nach, ob aus der Zeit vor unsrer Vertreibung noch Verwandte übrig geblieben sind.“

Alle gehorchten und machten sich auf den Weg. Als nach drei Tagen keiner von ihnen zurückgekehrt war, wurde Wotan ungeduldig. Er schwang sich auf sein acht­beiniges Pferd Sleipnir und stob in Richtung Thüringen davon.

Unterwegs kamen ihm Freki und Geri, die beiden Wölfe entgegen. „Wir sind fündig geworden, sagten sie. „Auf einem Felsmassiv hoch über dem Ufer der Saale, wo einst dein Schloss >Lifgard< stand, befinden sich heute die Dornburger Schlösser. Das schmucke Anwesen war dein letzter Wohnsitz vor der Vertreibung. Wir haben schon veranlasst, dass es an dich zurückgegeben wird.“

Wenig später kamen auch die Raben Hugin und Munin angeflogen und berichteten: „Es leben viele tausende Bewohner im Land, aber nur wenige wissen noch von einem Gott.“

„Das ist unsere Chance“, antwortete Wotan und nahm feierlich Besitz von den Dornburger Schlössern.

Es dauerte eine Weile, bis sie wieder in einem bewohnbaren Zustand waren. Dann aber war alles wundervoll gerichtet, und Wotan ließ nach seiner Frau Frija, seinen Kin­dern und Enkeln, seinen Vettern und Kusinen rufen, so dass auch sie in den Schlössern und ihren Nebengebäuden Einzug halten konnten. Dann schickte er seinen Sohn Donar los, um alle Weingüter in der Umgebung zu beschlagnahmen. Wotan pflegte nämlich nie etwas zu essen, dafür aber umso mehr zu trinken.

Als dies geschehen war, lächelte Wotan zufrieden, stampfte mit seinem Speer Gungnir auf den Erdboden und rollte mit seinem einzigen Auge. "Lasst uns jetzt mit den Bekehrungen beginnen", sagte er voller Tatendrang.

Wotans Wiederkehr hatte sich in kurzer Zeit herumgesprochen, und so sprachen kurz danach der Bürgermeister und der Pfarrer bei ihm vor. Da Wotan nur mit einem Auge sehen konnte, sah er nur den Pfarrer und nicht den neben ihm sitzenden Bürgermeister. Hören konnte er beide, glaubte aber, dass nur der Pfarrer zu ihm sprechen würde.

"Wie viele Menschen leben in eurem Dorf?", fragte er. "Fünfhundert, antwortete der Bürgermeister. "Wie viele davon glauben an Gott?", wollte Wotan wissen. "Fünf­zig", antwortete der Pfarrer, "niemand", der Bürgermeister. "Wie viele sind bereit, mich wieder als ihren Gott anzuerkennen?", fragte der Allvater weiter. "Keiner", ant­wortete der Pfarrer, "alle", der Bürgermeister. "Wie viele Bewohner sind ohne Arbeit?", setzte Wotan die Befragung fort. "Alle", erwiderte der Bürgermeister.

Da dachte Wotan: "Warum bekomme ich nur eine einzige Antwort, wenn ich nach Einwohner- und Arbeitslosenzahlen frage, aber zwei sich widersprechende, wenn ich die Zahl der Gläubigen wissen will? Der Pfarrer ist also nicht ehrlich, auf seine Worte ist kein Verlass." Er befahl daher, dass sein Sohn Tyr auf dem Dorfplatz eine Volksver­sammlung einberufen sollte. Dort ließ er vor dem Löschteich einen Thron aufstellen und nahm darauf Platz. Mit seinem einen Auge sah er nur das renovierte Rathaus und nicht die an einer anderen Seite des Platzes stehende, halb verfallene Kirche. "Den Menschen hier geht’s doch recht gut", sagte er deshalb zu Tyr. "Sieh’, welch hübsches Rathaus sie sich leisten können."

Da wies Tyr, der ein Herz für die Arbeitslosen hatte, diese an, sich vor dem Rathaus aufzustellen, die Rentner und Greise aber vor der Kirche. So sah Wotan, dass es viele Arbeitslose gab in dem Dorf. "Glaubt an mich", rief er ihnen mit würdevollem Aus­druck zu. "Nur wenn du uns Arbeit gibst", antwortete die Menge.

"Ich bin gekommen, euch zu helfen", verkündete Wotan. "Also hilf uns", hörte man es rufen, und Tyr ergänzte: "Sie wollen von dir wissen, wie sie zu Arbeit kommen."

"Es ist ganz einfach, ihr braucht nur zu heretieren", antwortete Wotan nach kurzer Denkpause.

"Was ist das - heretieren?" riefen die Leute.

Da erhob sich Wotan von seinem Thron, stampfte mit seinem Speer auf den Boden und ließ sein Auge feurig funkeln. Sein Hals schwoll an und seine Wangen röteten sich.

Die Menschen waren beeindruckt, "Wie aber sollen wir heretieren, wenn wir nicht wissen, was das ist?", fragten sie sich. Auch Tyr schüttelte verlegen den Kopf. "Was ist Heretieren?", wollte er von seinem Vater wissen. "Wenn die Not groß war, haben wir immer heretiert", antwortete Wotan. "Heretieren ist heretieren, genau wie eine Kuh eine Kuh ist und nichts als eine Kuh." Dann wendete er seinen Blick und sah die Rent­ner und alten Menschen vor der Kirche. "Ich mach mir Sorgen darüber, wie schnell die Menschen hier altern", sagte er zu Tyr und ließ sich erschüttert zu seinen Schlössern zurückgeleiten.

Am Tag danach trafen sich Tyr, der Bürgermeister, der Pfarrer und die Räte des Dor­fes. "Wir müssen herausfinden, was Heretieren ist", meinten Tyr und der Bürgermeis­ter übereinstimmend und die Versammlung beschloss, eine Kommission ins Leben zu rufen, die sich mit der Aufklärung dieser Frage befassen sollte. Es wurden zwei He­retier-Direktoren ernannt, vier Heretier-Sekretärinnen, ein Heretier-Hausmeister, ein Heretier-Gärtner und zwanzig Heretier-Sachbearbeiter berufen. Ein Psychologe, zwei Juristen, fünf Ökonomen und sieben Philosophen wurden um die Erstellung von Gut­achten gebeten. Fünf Ingenieure und vierzig Bauleute wurden beauftragt, die Verwal­tungszentrale für eine Heretierinstitut zu planen und zu errichten. Zwei Schreinereien stellten die dazugehörigen Möbel her. Eine Heretier-Versuchsanlage brachte Arbeit für zwölf weitere Dorfbewohner. Sieben Vollzeitkräfte waren mit dem Abstempeln der einzelnen Heretier-Anträge beschäftigt. Vierzehn weitere prüften den Fortgang der Maßnahmen und fünfzehn lasen die Ergebnis- und Rechenschaftsberichte. Zwei Bä­cker und ein Fleischer mit seiner Frau sowie ein Apotheker, drei Frisöre, zehn Ärzte und ein Steinmetz versorgten alle Genannten, mit dem Notwendigsten.

Schließlich waren bis auf fünfzig Dorfbewohner alle in Arbeit Doch auch für die Verbliebenen wurde gesorgt. Wotan beschäftigte sie als Gärtner oder in seinem Haus­halt.

"Dank Wotan haben wir's geschafft", freuten sich die Dorfbewohner. Doch un­dankbar, wie Menschen sind, war kaum einer bereit, ihn auch als Gott anzuerkennen.

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