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Von Evchensruh nach Adams Hoffnung

Die sechs Erzählungen sind das Kaleidoskop eines Lebens: von der erinnerten Kindheit, die immer märchenhafte Züge trägt, über die verspielten Dinge der Jugend bis hin zu den harten Auseinandersetzungen im Erwachsenen-Dasein. Das Verschwinden von Glauben und Vertrauen, das Verzweifeln an der Welt, diese metaphorische Obdachlosigkeit (Safranski), sind Teil davon.

Der Graf von Gera

Der Graf von Gera

Florian Russi

In seinem Schloss in Gera hörte der junge Graf Gieso ständig von Klagen und Beschwerden der Bewohner seines Landes. Da sein Vater, der mächtige und gestrenge Graf Arthur, von gedungenen Mördern umgebracht worden war, entschloss Gieso sich, die Beschwerden ernst zu nehmen und sich bei seinem Volk beliebt zu machen.

So brach er eines Tages auf zu einer Rundreise durch die Dörfer und Siedlungen der Grafschaft. In Begleitung seines Dieners Eberhard und seiner engsten Berater kam er in der Gemeinde Windischenbernsdorf an.

»Sagt mir, was euch bedrückt«, rief Gieso aus, als er mit den ersten Bewohnern zusammentraf. Die meisten von ihnen wollten nur seine Hand drücken. Einige brachten aber auch ihr Anliegen vor. Eine verhärmte Frau kniete vor ihm nieder und flehte: »Helft mir, Herr Graf, mein Mann ist ein Trinker, und unsere neun Kinder und ich leiden Hunger. «

»Dir wird geholfen«, antwortete Graf Gieso und wandte sich der nächsten Bittstellerin, einer schwangeren Frau zu. »Mein Mann wird mich verlassen, wenn es diesmal kein Junge wird«, jammerte die Frau. »Vier Töchter haben wir schon. « »Sei unbesorgt«, antwortete der Graf leise, »du wirst einen Sohn bekommen. «

Dann zog er weiter ins nächste Dorf, und ein Bauer trat vor ihn hin und klagte: »Wildschweine haben meine ganze Aussaat zerwühlt und aufgefressen. Ich bin ruiniert.« »Ich werde mich um deinen Fall kümmern«, antwortete der Graf und zog weiter.

Als er wieder Station machte, sprach ihn ein junges Mädchen an. »Ich bin von Haus aus bitterarm. Nie werde ich einen Mann bekommen. «

Im Hermsdorf wollte sich ein alter Mann nur schwer beruhigen lassen. »Mein Nachbar hat mich betrogen. All meinen Besitz habe ich verloren, jetzt muss ich in Elend sterben. « »Verlasse dich auf mich«, antwortete Graf Gieso. »Du wirst deinen Besitz zurückerhalten. « Dankbar lächelte der Alte und küsste dem Grafen die Hände.

Im nächsten Ort trat ein verzweifelter Bewohner vor und flehte Gieso an: »Bitte hilf mir, mein Haus verfällt und ich habe kein Geld, es zu reparieren. « »Du wirst das notwendige Geld bekommen«, tröstete ihn der Graf.

Beim nächsten Halt wurde Gieso von einem schüchternen Ehepaar begrüßt. »Unser Sohn ist jetzt 16 Jahre alt. Alle nennen ihn hochbegabt, doch uns fehlen die Mittel, um ihm Bücher zu kaufen, mit denen er sich weiterbilden kann. « »Man muss junge Menschen fördern«, antwortete der Graf von Gera, »das ist mir ein Anliegen. Euer Sohn wird viele nützliche Bücher bekommen. « Wieder hinterließ er Hoffnung und Dankbarkeit.

»Wie wollt ihr alle eure Versprechungen erfüllen? « fragte auf der Rückreise der Diener Eberhard seinen gräflichen Herrn. »Das soll meine Sorge sein«, antwortete dieser und sprach von einem großen Erfolg seiner Reise.

»Weit über die Hälfte meiner Untertanen hatte keine Wünsche an mich und war nur gekommen, um mich zu sehen. Dieser Teil des Volkes liebt mich schon jetzt. Über den Rest wird noch zu reden sein. Jetzt aber wollen wir erst einmal zur Jagd rüsten und sehen, was unsere Wälder und Felder an Wildbret für uns bereithalten.«

Unter fröhlichem Spiel und Gesang brachen der Graf und seine Hofgesellschaft zu seinem Jagdschloss auf. Das Wild hatte sich prächtig vermehrt. Zehn Hirsche, hundert Rehe und dreihundert Wildschweine brachten Gieso und sein Gefolge zur Strecke.

Ein Jahr später brach der Graf von Gera erneut auf, um sein Land zu durchfahren. Dabei besuchte er auch die Stationen seiner ersten Reise. Viele Menschen standen am Weg und jubelten ihm zu. In Windischenbernsdorf aber meldete sich wieder die Frau mit den neun Kindern. »Mein Mann säuft noch mehr als bisher. Meine Kinder und ich werden bald verhungert sein. «

Gieso reichte der Frau einen Korb mit Brot, Wurst und Ost, den er in seinem Proviant mit sich führte. »Hier nimm erst einmal das«, sagte er zu der dankbaren Frau, »weitere Hilfen werden folgen. « Die Umstehenden klatschten freudig Beifall. Aus der Menge löste sich eine vor Glück strahlende Frau. Sie fiel vor ihrem Landesherrn auf die Knie, hielt ihm ein Bündel entgegen und sagte: »Ja, es ist wirklich ein Sohn geworden, so wie Ihr es mir versprochen habt. « Gnädig erhob Graf Gieso eine Hand und berührte die Stirn des kleinen Jungen.

Als er und seine Mannschaft im nächsten Dorf eintrafen, wartete am Straßenrand schon ein Mann, der eifrig eine Fahne schwenkte. »Es ist wie ein Wunder«, rief er. »Die Wildschweinplage hat abgenommen, und ich kann wieder ernten und mein Gemüse verkaufen. «

Beim nächsten Halt trafen sie wieder auf das Mädchen, das wegen seiner Armut keinen Mann bekommen sollte. »Ihr habt der Dirne einen Partner aus Eurem Hofstaat versprochen«, erinnerte der Diener Eberhard seinen Herrn an die erst Begegnung.

»Ich weiß«, antwortete der Graf, »ich hatte dabei unter anderem dich im Auge. «

„Vielen ewigen Dank«, rief da das Mädchen. »gebt Euch keine Mühe mehr mit mir. Ich habe mich vor einem Monat mit Walter verlobt. Er ist arm wie ich, aber ich liebe ihn. Nie würde ich ihn gegen einen anderen Mann tauschen. «

»Das ganz Land steht unter meiner umfassenden Herrschaft«, antwortete da der Graf. »Nichts geschieht ohne mein Wissen und mein Wohlwollen.«

Dann zog er weiter. Im nächsten Ort erlebte er nur Freude und Begeisterung. Der alte Mann, dem der Nachbar seine Existenz zerstört hatte, weilte nicht mehr unter den Lebenden.

Sehr lebendig war dagegen noch der Mann, dessen Haus einzustürzen drohte und inzwischen fast völlig in sich zerfallen war. Er jammerte noch viel mehr als beim letzten Mal und blickte fast feindselig auf seinen Landesherrn.

»Ein verfallenes Haus entbehrt nicht einer gewissen Romantik«, antwortete Gieso ungerührt. »Doch habe ich versprochen, dir zu helfen. Du wirst bald von mir hören. « Den Bürgermeister des Ortes ermahnte er eindringlich, sich schon einmal um den Fall zu kümmern.

Am Ende der Rundreise meldeten sich auch wieder die Eltern des hochbegabten Jungen. »Eure Bücher sind leider noch nicht bei uns angekommen. «, merkten sie bescheiden an.

»Für ein paar Bücher werden doch wohl noch Geld übrig haben«, meinte da Graf Gieso zu seinem Diener, und zu den Eltern sagte er: »Nächste Woche schon wird Eberhard euch besuchen und eine Menge Literatur für euren Sohn mitbringen. «

So geschah es, und die Eltern erzählten es stolz ihren Verwandten und Bekannten. Der Sohn wurde Lehrer und verkündete Generationen von Schülern, wem er maßgeblich seine Bildung zu verdanken hab.

»Hab ich was falsch gemacht? « fragte der Graf von Gera seinen Diener Eberhardt und war mit einem leisen Kopfschütteln zur Antwort zufrieden. Dann ließ er zur Jagd blasen.


*****

Bildquelle:

Vorschaubild: Panorama of Gera, 2008, Urheber: User:Viciarg via Wikimedia Commons CC BY-SA 3.0.

Painting made by Dommersen in 1889, Quelle: kettererkunst.de via Wikimedia Commons Public Domain.

Jagd nahe Schloss Hartenfels, Lucas Cranach der Ältere (1540) via Wikimedia Commons CC0.


Textquelle:

Text entnommen aus: Russi, Florian: Der Drachenprinz, Weimar: Bertuch Verlag, 2004, S.150ff.

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