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Christina Lange und Florian Russi

Warten auf den Missionar

Warten auf den Missionar

Florian Russi

Es war in der Zeit der großen Völkerwanderung. Am Ufer der Saale, unterhalb des Tautenburger Waldes, saßen fünf Männer vom Stamm der Warunen. Sie warteten auf den Missionar, der für diese Zeit sein Kommen zugesagt hatte.

Im östlichen Europa waren die Hunnen eingefallen und hatten germanische Volksstämme in Angst und Bewegung versetzt. Auf und ab durchzogen diese nun den halben Kontinent. Einer trieb den anderen vor sich her. Ein wenig anders verhielt es sich mit den Warunen. Sie waren hinter ihrer wichtigsten Nahrungsquelle, dem Stamm der Glotten, hergezogen. „Glotta“ hieß in der Sprache der Warunen „lecker“. Die Warunen waren Kannibalen.

Eines Tages war, in einem Einbaum-Boot die Saale abwärts rudernd, ein Mann aus England zu ihnen gekommen. Er hatte sich als Priester eines fernen Stammes vorgestellt und verkündet: „Ich zeige euch den Weg ewigen Heils.“ Dann wollte er von ihnen wissen, woher sie stammten und wohin sie glaubten, nach ihrem Tod gehen zu müssen. Da hatten sie erst zum Himmel und dann zur Erde gezeigt.

Von ihren Priestern war ihnen gelehrt worden, ihre Stammeltern seien vom Himmel auf die Erde herabgestiegen. Dass sie selbst nach ihrem Tod in die Erde eingegraben wurden, wussten sie eigener Anschauung.

Nein, genau umgekehrt sei es, widersprach der Missionar. Sie entstammten der Erde, und, wenn sie alles befolgen würden, war er ihnen sagte, würden sie eines Tages gen Himmel auffahren. Dabei hatte er immer wieder erst auf die Erde und dann zum Himmel gezeigt. Eine solche Vorstellung war gewöhnungsbedürftig.

Der Missionar hatte ihnen von einem heiligen Mann berichtet, den seine Feinde nackt an ein Kreuz genagelt hatten. Auch hatte er ihnen eingeschärft, dass sie einander lieben sollten und niemals die Unwahrheit sagen dürften. Vor allem aber hatte er ihnen bei seinem Abschied versprochen, nach dem vierten Neumond zu ihnen zurückzukehren, weshalb sie jetzt auf ihn warteten.

Seine Worte waren ihnen nachgegangen. Auch ihre eigenen Priester lehrten sie, den Stammesbrüdern nichts Böses zu tun. Schwer zu verstehen war jedoch die Geschichte mit dem Mann am Kreuz. Es waren doch Leute von einem anderen Stamm, die ihn dort festgenagelt hatten. Niemand von denen sollte auf die Idee gekommen sein, ihn anschließend zu verspeisen? Welch eine Verschwendung.

Über das Verbot des Lügens hatten sie sich an vielen Abenden unterhalten. Es war von Vorteil, wenn jeder die Wahrheit sagte. Doch was sollte man antworten, wenn man gefragt wurde: „Bist du ein ehrlicher Mann?“ oder: „Bist du auch fähig zu dem, was du dir zutraust?“

Nun saßen sie da und warteten darauf, dass der Missionar selbst Wort halten und wiederkommen werde. Nachdem er sie verlassen hatte, waren schlimme Zeiten für sie angebrochen. Ohne erkennbaren Grund hatten die Glotten, die Leckeren also, über Nacht ihre Dörfer verlassen und waren mit unbekanntem Ziel davongezogen. Zusätzlich war unter den Warunen eine Epidemie ausgebrochen. Die Folge war, dass alle ständig niesen mussten. Die Krankheit hatte sie so geschwächt, dass an einen erneuten Wanderzug nicht zu denken war.

Um das Leid vollkommen zu machen, hatte der Sommer eine unerträgliche Hitze mit sich gebracht. Das Land trocknete aus, die Saale führte nur wenig Wasser. Es gab nichts zu essen außer Wurzeln, immer nur Wurzeln. Das war eintönig und schwächte den Körper. Deshalb saßen sie da und hofften, dass der Missionar endlich am Horizont aufkreuzen werde. Der vierte Neumond war längst vorbei, der Mann aus England überfällig.

Nervös blies einer der Warunen in ein Horn, ein anderer schlug die Trommel. Weithin tönte ihre Klage, doch blieb eine Antwort aus. Die Hitze konnte keine Entschuldigung sein. Für einen Einbaum führte der Fluss noch genug Wasser. Wie war es also mit der Ehrlichkeit, auf die der Missionar so großen Wert gelegt hatte?

Sie versuchten, sich abzulenken, indem sie sich Geschichten erzählten. Enmal war ein römischer Goldsucher zu ihnen vorgedrungen. Sie hatten ihm vom Mineralreichtum der Saalezuflüsse erzählt. Sofort wollte er zu den Fundorten geführt werden. Doch sie hatten ihm erklärt: „Wenn ein Fremder ins Land kommt, ist es bei uns üblich, erst einmal ein Gastmahl zu veranstalten.“ Neugierig hatte er in den leeren Kochkessel geschaut und gefragt, was sie Leckeres zuzubereiten gedachten.

Fünf Tage hatten sie an ihm gegessen, er war außerordentlich fett. Man konnte schmecken, dass er ein ungesundes Leben geführt hatte. Welch ein Unterschied zu den Glotten, die sich hauptsächlich von Früchten und Kräutern ernährten. „Schmeckt wie ein Römer“, hieß es seither, wenn ihnen eine Speise nicht mundete.

Einer von den fünf Männern hatte vor längerer Zeit ein Glottenmädchen beim Sonnenbaden angetroffen und sie umzirzt. Sie hatte an die Liebe geglaubt, doch am Abend war sie im Kochtopf der Warunen gelandet. Die „Leckeren“ schmeckten am besten, wenn man sie für einige Tage in einen Sud von Salbei und Honig eingelegt hatte. Auch empfahl es sich, die Innereien vorher zu entfernen und gesondert zu lagern.

Doch alles Erinnern nutzte nichts. Die Mägen der fünf Warunen knurrten erbarmungswürdig. Sie hungerten und dürsteten nach dem wahren Glauben und seinem Überbringer. Der aber ließ sich nicht blicken. Er hielt nicht sein Versprechen. Wenn der Kerl so verlogen war, wie unredlich musste dann sein Glaube sein! Noch ehe die Warunen so recht für das Christentum entschieden hatten, wurden sie rückfällig und wieder zu verstockten Heiden.

 

*****

Entnommen aus: Russi, Florian: Der Drachenprinz: Geschichten aus der Mitte Deutschland, Weimar: Bertuch Verlag, 2004.

Zeichnung: ebd. von Dieter Stockmann.

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