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Florian Russi
Papier gegen Kälte

Manfred Hoffmann, ehemals Klassenbester, ist ein angesehener Kinderarzt mit eigener Praxis und strebt nach dem Professorentitel. Stets bemüht, allen in ihn gesetzten Erwartungen zu entsprechen, steuert sein Leben in eine Sackgasse. Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit erweist sich plötzlich als vergebens, sein Karriereaufstieg ist gefährdet, seine Ehe gescheitert, alle Erwartungen enttäuscht. Auf der Suche nach Genugtuung und nach Rechtfertigung begibt er sich auf Wege, die gefährlich weit in die Netze der organisierten Kriminalität ziehen.

Eine packende Mischung aus Entwicklungsroman und spannendem Thriller.

auch als E-Book erhältlich

Die Jungfrau im Inselsberg

Die Jungfrau im Inselsberg

Florian Russi

Vor vielen Jahren begab es sich, dass der junge Prinz Ludwig in den Wäldern Südthüringens zur Jagd ging. Als er in der Nähe des Inselsbergs zu einer Lichtung kam, hörte er plötzlich eine Stimme, die rief: »Veneta, komm heraus! Weissage meine Zukunft.

Vorsichtig schlich sich Prinz Ludwig heran und versteckte sich hinter einem Baum. Inmitten der Lichtung stand ein hagerer junger Mann und schaute in Richtung des Berges. Dann hörte Prinz Ludwig ein Donnergrollen. Der Inselsberg öffnete sich und eine Jungfrau mit langen blonden Haaren erschien, gekleidet in ein schneeweißes Ge­wand. Barfuss trat sie vor den jungen Mann. Während ihr Blick an ihm vorbei in die Ferne schweifte, sagte sie: »Hermann, gehe nach Eisenach. Dort wirst du ein sehr schö­nes und reiches Mädchen kennen lernen.«

»Bisher hast du mit deinen Weissagungen immer Recht behalten, Veneta«, antwor­tete der mit Hermann Angesprochene. Er kniete vor der Jungfrau nieder und wollte sich bedanken. Sie aber zog sich stolz und ehrerbietend zurück, und der Berg schloss sich wieder über ihr.

Prinz Ludwig ging in Gedanken verwirrt zu seinem Pferd. Er wähnte sich sicher, ge­träumt zu haben. Umso verwunderter war er, als er sich einige Monate später in Eise­nach aufhielt und dort einem feierlichen Hochzeitszug begegnete. In einer aufwendig geschmückten, von vier Schimmeln gezogenen Kutsche saß festlich gekleidet eben jener Hermann, den er auf der Lichtung vor dem Inselsberg gesehen hatte. An seiner Seite, im weißen Brautkleid, befand sich eine sehr hübsche junge Frau, in der er die Tochter des reichsten Kaufmanns der Stadt wieder erkannte.

Von Neugier gepackt ritt Prinz Ludwig sofort zur Lichtung vor dem Inselsberg und rief laut: »Veneta, komm heraus! Weissage meine Zukunft.«

Ein Donnergrollen ertönte. Der Berg tat sich auf. Die Jungfrau Veneta trat heraus und kam barfuss auf Prinz Ludwig zu. Ihr Blick ging wieder in die Ferne, dann sagte sie. »Prinz Ludwig, in zwei Tagen wirst du König sein.« Ohne weitere Worte zog sie sich zurück, und der Berg schloss sich über ihr.

Als Prinz Ludwig zwei Tage später zum väterlichen Schloss ritt, kam ihm ein Bote entgegengeritten. »Mein Herr, ich muss dir sagen, dass heute Nacht dein Vater, unser König gestorben ist. Der Bischof wartet schon, um dich als seinen Nachfolger zu sal­ben.«

Da wurde Prinz Ludwig klar, dass die Jungfrau aus dem Inselsberg leibhaftig war und tatsächlich die Zukunft voraussagen konnte.

Aus Furcht, dass Veneta ihm ein böses Ereignis prophezeien könnte, vermied es der neue König lange Zeit, zur Lichtung zurückzukehren und Veneta um weitere Weissa­gungen zu bitten. Doch als er eines Tages davon hörte, dass Hermann als erfolgreicher Eisenacher Kaufmann zu unermesslichem Reichtum gelangt sei, fasste er neuen Mut. Er machte sich wieder auf zum Inselsberg. Diesmal sagte Veneta ihm voraus: »Ihres Erbes wegen wirst du eine Prinzessin heiraten, die du nicht liebst.«

Tatsächlich bot ihm kurz darauf ein anderer König, mit dem sein Vater ständig im Krieg gelegen hatte, seine Tochter zur Frau an. König Ludwig stimmte zu, obwohl er die fremde Königstochter nie gesehen hatte. Ihn interessierten vor allem die Lände­reien, die sie mit in die Ehe brachte.

Einige Monate nach seiner Hochzeit prophezeite Veneta ihm: »Du wirst drei Kinder bekommen. Zwei von ihnen werden bald nach der Geburt sterben.«

So geschah es dann auch, und König Ludwig entschloss sich, nur noch in ganz dringenden Angelegenheiten Venetas Weissagungen einzuholen.

Jahre gingen ins Land. Eines Tages kam der inzwischen noch reicher gewordene Kaufmann Hermann von einer weiten Reise zurück nach Eisenach. Er war sehr be­drückt, denn unterwegs hatte ihn eine Seuche befallen. Übersät mit scheußlichen Ei­terbeulen kam er zu Hause an, und kein Arzt konnte ihm helfen. Da machte er sich auf zum Inselsberg und rief: »Veneta komm heraus! Weissage mir die Zukunft.« Veneta er­schien und verkündete: »Du wirst einen anderen Menschen in tiefes Unglück stürzen.«

Sollte das etwa einer der wenigen Menschen sein, die ich liebe, dachte Hermann bei sich. Auch Veneta ist nur ein Mensch, wenn auch einer mit besonderen Gaben. Ehe Ve­neta sich wieder zurückziehen konnte, ergriff er sie und tat ihr Gewalt an. Ihr weißes Kleid war dabei sehr schmutzig geworden, und bitterlich weinend zog sich Veneta in ihren Berg zurück.

»Nun ist sie der Mensch, den ich ins Unglück gestürzt habe«, sagte Hermann und war sehr zufrieden mit seinem Einfall. Insgeheim hoffte er, der Kontakt mit der un­tadeligen Jungfrau habe ihn auch von seiner Seuche geheilt.

Wenig später kam auch König Ludwig wieder zum Inselsberg und rief: »Veneta komm heraus! Weissage meine Zukunft.« Dreimal musste er rufen, bis sie aus dem Berg trat. Diesmal ging ihr Blick nicht in die Ferne, sondern war angstvoll auf den König gerichtet.

»Schon bald wirst du eines elenden Todes sterben« weissagte sie ihm. Da wurde Ludwig zornig und schrie sie an: »Was fällt dir ein, so mit deinem König zu reden?«. Er nahm seine Reitpeitsche, schlug auf die junge Frau ein und vergewaltigte sie unter wüsten Beschimpfungen. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verkroch sich Veneta trau­rig in den Inselsberg.

König Ludwig kehrte in sein Schloss zurück. Es dauerte nicht lange, da spürte er ein Ziehen und Stechen in seinen Gliedern, und übelriechende Eiterbeulen überzogen sei­nen Körper. Unter elenden Umständen ereilte ihn der Tod und mit ihm einen großen Teil seines Hofstaates.

 

*****

Die Erzählung stammt aus: Florian Russi, Der Drachenprinz, Bertuch Verlag Weimar 2004,
ISBN 978-3-937601-08-3.

Illustration: Schwarz-Weiß-Zeichnung von Dieter Stockmann, hier coloriert

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