Thüringen-Lese

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Der Drachenprinz

"Der Drachenprinz" von Florian Russi

Geschichten aus der Mitte Deutschlands, mit Zeichnungen von Dieter Stockmann, 2004, 222 Seiten, gebunden, mit Schutzumschlag


Leander, der Lügner

Florian Russi

Leander war Berater des Landgrafen Heinrich von Thüringen. Er war über die Ma­ßen ehrgeizig, blieb nicht gerne eine Antwort schuldig und wollte alles wissen, Eines Tages fragte ihn der Landgraf: »Was ist der Sinn des Lebens?« Leander konnte ihm keine Antwort geben und schämte sich deshalb sehr. Er bat seinen Herrn, ihn für zwei Jahre zu beurlauben und machte sich auf zum Brotteroder Wald. Dort, so hieß es, würde in einer Hütte ein alter Eremit leben, der sich alles Wissen der Welt angeeignet hätte.

»Lass mich zu dir in die Lehre gehen«, bettelte Leander. »Ich will dir auch viel Gold und Silber dafür geben.«

»Gold und Silber interessieren mich nicht«, antwortete der Einsiedler. »Versprich mir, dass du ein verantwortungsbereites Leben führen willst. Je mehr du lernst und er­fährst, desto stärker muss auch deine Persönlichkeit reifen.«

Leander versprach, auch seinen Charakter zu schulen und danach zu streben, ein guter und rechtschaffener Mensch zu werden. Dann stellte er dem Eremiten als erstes die Frage: »Was ist der Sinn des Lebens?«

»Darauf gibt es keine eindeutige Antwort«, erwiderte der. »Jedes Leben ist anders. Wenn ich allerdings sage: Der Sinn meines Lebens ist es, die Eigenschaften und Fähig­keiten, die Gott in mich gelegt hat, zu entwickeln und zu meinem eigenen Wohl und dem meiner Mitmenschen zu nutzen, dann komme ich einer für alle Menschen gülti­gen Aussage schon sehr nahe.«

Die Worte des alten Mannes beeindruckten Leander, und er war bestrebt, jeden Tag etwas Neues zu lernen.

Nach zwei Jahren eifrigen Studiums nahm er Abschied von seinem Lehrmeister, be­dankte sich und ritt zurück zur Wartburg, dem Schloss seines Herrn.

Als er den Brotteroder Wald gerade verlassen wollte, kamen ihm uniformierte Be­rittene entgegen, in denen er Soldaten des Landgrafen erkannte. »Wir suchen nach einem Eremiten«, erklärten sie ihm. »Er ist angeklagt der Hexerei.« Da zeigte er ihnen den Weg, so dass sie ihn finden und verhaften konnten.

Auf der Wartburg angekommen, wurde Leander von Heinrich freudig begrüßt. »Ich hoffe, dass du dir viel Wissen angeeignet hast«, meinte er. »Nun kannst du mir viel­leicht auch die Frage beantworten: Worin besteht der Sinn des Lebens?«

Wartburg um 1900
Wartburg um 1900

»Kein Leben ist gleich«, erwiderte Leander, »Wenn wir jedoch sagen: Sinn des Le­bens ist es, die Eigenschaften und Fähigkeiten, die Gott in uns gelegt hat zu entwickeln und zum eigenen Wohl und dem unserer Mitmenschen zu nutzen, so kommen wir ei­ner allgemein gültigen Regel sehr nahe.«

»Eine überzeugende Philosophie«, entgegnete der Landgraf anerkennend. »Sag mir nun auch noch, ob heute ein günstiger Zeitpunkt ist, um auf die Jagd zu gehen.« Le­ander schaute zum Himmel und zu den Wolken und befand dann: »In wenigen Stun­den wird ein fürchterliches Unwetter über uns herniedergehen. Es empfiehlt sich also, zu Hause zu bleiben.«

Tatsächlich kam wenige Stunden später ein verheerender Sturm auf und brachte in den Wäldern hunderte von Bäumen zum Umsturz. Die Jagdgesellschaft war froh und dankbar, auf der Wartburg geblieben zu sein. »In Zukunft werde ich immer auf deinen Rat hören«, versprach der Landgraf und umarmte Leander. Dann fuhr er fort: »Um mich endgültig zu überzeugen, solltest du mir jetzt noch sagen, welches Heilmittel meiner kleinen Töchter helfen könnte. Das arme Kind leidet an Schwindelgefühien.«

Leander empfahl einen Tee aus Weißdorn- und Lavendelblüten, Kamille, Minze und Salbei, und schon wenige Stunden später zeigte sich bei der Landgrafentochter eine merkbare Verbesserung der Gesundheit.

Bei Hofe war man voll des Lobes über den klugen Berater des Landesherrn.

Als Leander wenig später über den Innenhof der Wartburg ging, begegnete er dem Einsiedler, der an den Händen gefesselt von den Soldaten vorbeigeführt wurde. Als dieser ihn sah, rief er ihm zu; »Ist das dein Dank dafür, dass ich dich soviel gelehrt habe?«

Leander antwortete nicht und tat, als ob er den Alten nicht kennen würde.

Da verwünschte ihn der Eremit und sprach leise vor sich hin: »Das, was ich ihn ge­lehrt habe, kann ich ihm nicht mehr nehmen. Doch soll Leander in Zukunft immer nur das Gegenteil von dem sagen können, was er weiß und denkt«

Einige Zeit später wollte Landgraf Heinrich einen Boten nach Nordhausen schi­cken. Die kürzeste Strecke führte über Langensalza, doch dort lauerten häufig Wege­lagerer. Sie überfielen die Vorbeiziehenden, raubten sie aus und töteten sie.

Heinrich wandte sich an Leander: »ist dir bekannt, ob die Räuberbande immer noch den Weg nach Nordhausen unsicher macht?«

»Mach dir keine Sorgen«, versicherte der, »ich weiß, dass diese Bande nicht mehr besteht.«

Ohne Begleitschutz zog der Bote los. Unterwegs aber wurde er überfallen und ums Leben gebracht. Der Landgraf war verwundert und im höchsten Maße erbost.

Wenig später erkrankte der einzige Sohn des .Hofmeiers an einer Darminfektion. Hilfesuchend wandte sich der Vater an Leander: »Nenne mir eine wirksame Medizin!«

Leander empfahl einen Sud aus der Tamorawurzel, der dann auch sofort zubereitet wurde. Doch die Essenz war giftig, und der Sohn des Hofmeiers starb nach der Ein­nahme.

Da schrie Landgraf Heinrich seinen Berater wütend an: »Du willst uns wohl alle be­trügen, um selbst die Herrschaft über die Wartburg und das Land Thüringen an dich zu reißen?«

»So ist es«, bestätigte dieser, und sofort ließ ihn der Landgraf in das Burgverlies werfen.

Dort traf er wieder mit dem Eremiten zusammen, den die Soldaten schrecklich zugerichtet hatten. »Mach dir keine Sorgen«, sagte Leander zu ihm. »Morgen wird man dich freilassen.«

Da wusste der Einsiedler, dass seine letzten Stunden geschlagen hatten, und er ergab sich in sein Schicksal.

Der Landgraf war entschlossen, auch seinen ehemaligen Vertrauten als Verräter hinrichten zu lassen. Doch sein Hofnarr wiegte den Kopf: »Irgendetwas ist rätselhaft an seinem Verhalten. Lass mich mit ihm reden.«

Er stieg zu Leander ins Burgverlies und fragte ihn: »Warum belügst du unseren Gra­fen, deinen Herrn?«

»Ich belüge ihn nicht«, erwiderte der.

»Hast du jemals in deinem Leben die Unwahrheit gesagt?«

»Nein.« war die bestimmte Antwort.

Da lief der Hofnarr zum Grafen und sagte: »Leander kann nicht anders als lügen. Es gibt da etwas, was wir aufklären müssen! Darf ich den Eremiten sprechen?« »Den habe ich gestern köpfen lassen«, gestand Graf Heinrich ohne Rührung. »Dann erübrigen sich meine Fragen an ihn«, erwiderte der Hofnarr und konnte nur mit Mühe seinen Zorn und seine Enttäuschung unterdrücken. »Jetzt bleibt uns nur noch eine Möglich­keit. Wenn wir die Wahrheit über etwas heraus finden wollen, müssen wir das Gegen­teil von dem für richtig annehmen, was Leander uns mitzuteilen hat.«

Der Landgraf ließ den in Ungnade gefallenen vorführen, um den Vorschlag auf die Probe zu stellen. »Sag mir, ob ich meine jüngst verstorbene Frau aus Liebe oder nur wegen ihrer Mitgift geheiratet habe.« »Aus Liebe«, antwortete Leander.

»Du hast wohl recht mit deiner Vermutung«, meinte der Graf da zum Hofnarren und fuhr fort: »Ich will mich neu verheiraten. Fünf Prinzessinnen stehen zur Auswahl. Alle fünf Fürsten, deren Länder an Thüringen grenzen, bedrohen mich und wollen mir alles wegnehmen.

Du und Leander, ihr werdet diese fünf besuchen und mir anschlie­ßend berichten, vor welchem ich mich am meisten in Acht nehmen muss und wessen Tochter ich heiraten sollte.«

Wie ihnen aufgetragen, bereisten der Hofnarr und Leander die genannten Herr­schaftsgebiete und zogen Erkundungen über sie ein.

Als sie zurückkehrten, fragte der Landgraf neugierig: »Nun, welche Wahl habt ihr getroffen?«

»Auf keinen Fall, solltest du die Prinzessin Katharina heiraten«, antwortete Leander schnell. »Sie ist hässlich, ihr Vater arm, er hat keine Soldaten mehr. In seinem Land herrschen Not und Hunger.«

Der Hofnarr zwinkerte mit den Augenlidern. Sofort schickte Graf Heinrich eine Ge­sandtschaft los. damit sie für ihn um die Hand der Prinzessin Katharina anhalten sollte.

Leander kam wieder zu Ehren und Ansehen, Schnell hatte sich der Graf daran ge­wöhnt, immer das Gegenteil dessen zu tun und für wahr zu halten, was sein Berater ihm mitzuteilen hatte.

Nachdem Heinrich sich mit Katharina vermählt, beschloss Fürst Leopold, dessen Tochter Heinrich verschmäht hatte, Thüringen zu überfallen und zu erobern. Als auf der Wartburg gemeldet wurde, dass Fürst Leopold mit seinen Truppen im Anmarsch war, schlug der Hofnarr vor: »Schickt ihm Leander entgegen. Sollte er gefangen ge­nommen werden, so wird er unsere Feinde selbst unter schlimmster Folter anlügen. Kehrt er aber zu uns zurück, brauchen wir von dem, was er sagt, wieder nur das Ge­genteil zu glauben.«

»Das ist eine vortreffliche Idee«, befand Heinrich.

Also entsandte man Leander, um Leopolds Truppenbewegungen zu beobachten. Prompt wurde er gefangengenommen und vor Leopold geführt. »Kenne ich dich nicht?«, fragte der. »Warst du nicht zu Beginn des Jahres in Begleitung von Heinrichs Hofnarren an meinem Hof?«

»Nein«, erwiderte Leander.

Da drängte sich Leopolds Schlosszwerg vor und stellte ihm die Frage: »Kennst du den Landgrafen Heinrich?«

»Nein.«

»Gibt es den Grafen Heinrich überhaupt?«

»Mit Sicherheit nicht.«

Da zog der Zwerg den Fürsten am Ärmel und flüsterte ihm zu: »Als Heinrichs Hof­narr betrunken war, hat er mir anvertraut, dass Leander nicht anders kann als die Un­wahrheit zu sagen. Wir sollten das für unsere Ziele nutzen.«

Fürst Leopold verstand und verkündete laut: »Wir können das Gespräch beenden, habe ich doch inzwischen erkannt, dass Graf Heinrich zu mächtig für uns ist. Deshalb werden wir morgen schon unsere Zelte abbrechen und nach Hause zu rückkehren.« Dann sagte er noch: »Ich hasse Heinrich«, gab Leander einen leichten Schlag auf die Schulter und ließ ihn zur Wartburg zurückreiten.

Als dieser dort anlangte, war die Aufregung groß, und alle bedrängten ihn mit Fra­gen. »Leopold rüstet zum Kampf, morgen will er die Wartburg überfallen«, verkündete Leander. »Also will er seine Truppen zurückziehen«, schlussfolgerte Graf Heinrich. »Warum aber dieser Sinneswandel?«

»Leopold liebt dich«, erwiderte Leander, und damit war sich Heinrich gewiss, dass sein Berater immer noch zuverlässig die Unwahrheit sagte. »Also können wir uns unbesorgt zur Ruhe begeben«, stellte er zufrieden fest.

»Dazu würde ich nicht raten«, wandte da sein Hofnarr ein. Er stellte sich vor Lean­der und fragte: »Warst du im Lager Leopolds?«

»Nein«, antwortete der.

»Hat Leopold dich wiedererkannt?«

»Nein«.

»War sein Zwerg bei ihm?«

»Nein.«

»Haben sie dir geglaubt, was du ihnen gesagt hast?«

»Ja«, war diesmal Leanders Antwort.

Da griff sich der Hofnarr an die Stirn und rief in die Runde: »Ich rate zur höchsten Wachsamkeit. Leopold hat uns eine Falle gestellt.«

Entsprechend dem Rat des Hofnarren wurden auf der Wartburg die Wachen ver­stärkt. Zum Schein ließ Heinrich ein lautes Fest mit viel Fackelschein feiern. Zugleich wies er seine Soldaten an, einen Hinterhalt zu legen und den erwarteten Angriff abzu­fangen.

Der erfolgte noch in derselben Nacht. Leopold war überzeugt, seinen Gegner über­tölpelt zu haben. Ohne besondere Vorsichtsmaßnahmen rückte er vor und erlebte eine schmähliche Niederlage.

Jetzt wurde auf der Wartburg ein richtiges Fest gefeiert. Alle, die irgendwie dazu­gehörten, wurden eingeladen. Der Burgprobst sprach ein Dankgebet und segnete die Menge, Dann rief er nach Leander und fragte ihn laut und feierlich, so dass alle es hören konnten: »Sag uns, gibt es einen Gott?«

»Nein«, versicherte der Angesprochene.

»Er hat nein« gesagt, also ist >ja< die richtige Antwort. Hier habt ihr den Beweis«, rief der Probst triumphierend in die Runde. »Es gibt ihn also, unseren Gott!«

Doch da meldete sich noch einmal der Hofnarr zu Wort. »Ihr solltet nicht so voreilig sein. Hochwürden. Viele glauben an ihn. Niemand aber weiß, ob es Gott wirklich gibt. Auch Leander kann es nicht wissen, trotz seiner vielen Lehrjahre. Wer aber die Wahr­heit nicht kennt, kann auch nicht lügen.«

*****


Bildquellen:

Wartburg um 1900, Von Unbekannt, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=85...

Textquelle: „Der Drachenprinz", Bertuch Verlang GmbH Weimar, 2004; (ISBN-Nr.: 3-937601-08-2)

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