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Magisches Lesevergnügen bietet Ingrid Annels Jugendroman, der den Leser auf eine Zeitreise ins Mittelalter führt.

 

Die Dunkelgräfin

Die Dunkelgräfin

Thomas Handschel

Das Rätsel von Hildburghausen

Ihr Geheimnis nahm sie mit ins Grab. Auch mehr als 200 Jahre, nachdem die rätselhafte Frau und ihr Begleiter 1807 im südthüringischen Hildburghausen auftauchten, liegt beider Geschichte zum Teil immer noch im Dunkeln. Nicht zuletzt deshalb nannte und nennt man das vornehme Paar etwas prosaisch die „Dunkelgrafen", ein Titel, den der Dichter Ludwig Bechstein erstmals dem Gefährten der Dame in seinem gleichnamigen Roman von 1854 verliehen hatte.

Doch es gab noch einen triftigeren Grund, die Frau als „Dunkelgräfin" zu bezeichnen, denn sie war in der Öffentlichkeit, die sie ohnehin fast immer mied, nie ohne Gesichtsverschleierung oder eine grüne Brille zu sehen, sodass sie keiner erkennen oder identifizieren konnte. Das erregte natürlich erst recht Neugier und Aufmerksamkeit, weshalb ihr stetiger Begleiter alle Hände voll zu tun hatte, sie abzuschirmen. Das Leben dieses Mannes war das eines unermüdlichen Bodyguards, der ganz im Dienste - und wenn man so will - im Schatten der geheimnisumwitterten Frau stand. Zudem besaß das „Dunkelgrafenpaar" (War es überhaupt ein Paar oder doch eher eine Schicksalsgemeinschaft?) die Protektion des Herzogs von Sachsen-Hildburghausen, denn sonst hätten die beiden nicht jahrzehntelang unbehelligt im unweit der Residenzstadt Hildburghausen gelegenen Schloss Eishausen leben können, das dem Hof gehörte. Und obwohl sich schon mancher Zeitgenosse, später viele Hobbyforscher und Berufshistoriker, Schriftsteller und schließlich sogar ein „Interessenkreis Dunkelgräfin" darum bemühten und bemühen, Licht ins Dunkel der Identität dieser Frau zu bringen, ist das bis heute nicht gelungen. Allerdings wurde im Laufe der Zeit eine beeindruckende Fülle von Daten und Fakten zum Dunkelgrafenpaar zusammengetragen, die es zumindest erlaubt, zahlreiche Ereignisse und Umstände des Lebens der beiden zu rekonstruieren.

Ihr Beschützer

Im Fall des Begleiters der Dunkelgräfin ließ sich schon bald auch dessen Identität ermitteln, nicht zuletzt weil sich in seinem Nachlass entsprechende Papiere fanden (u. a. ein vom französischen Außenminister Talleyrand unterzeichneter Ausweis).

Der als Louis Charles Vavel de Versay auftretende Mann war niemand anderes als der 1769 in Amsterdam geborene Leonardus Cornelius van der Valck, der aus einer (später in Deutschland lebenden) Kaufmannsfamilie stammte. Von 1789 bis 1791 absolvierte er ein Jurastudium in Köln und Göttingen. Als Sympathisanten der Französischen Revolution verschlug es ihn 1792 nach Paris, wo er bald eine Offiziersstelle in der französischen Armee erwarb und nach mehreren Einsätzen in Deutschland 1794 in preußische Gefangenschaft geriet. Danach bis 1797 in Freiburg im Breisgau inhaftiert (einige Biografen erwähnen auch einen möglichen Aufenthalt als Kriegsgefangener 1797 in England), wurde er nach seiner Entlassung aus der Armee 1798 Sekretär der Gesandtschaft der „Batavischen Republik" in Paris. (Die „Batavische Republik" war eine auf niederländischen Boden errichtete Tochterrepublik Frankreichs von 1795 bis 1806.) Nach dem Tod seiner Großmutter (1799), die ihn zeitlebens gefördert hatte, erbte er ein großes Vermögen. Noch im selben Jahr kündigte van der Valck seine Diplomatenstelle und soll kurz darauf den Begleitschutz der geheimnisvollen Dame übernommen haben, den er bis zu deren Tod 1837 ununterbrochen ausübte. Manche Biografen sagten van der Valck eine Mitgliedschaft bei den Freimaurern nach, deren engmaschiges Netzwerk ihn immer wieder bei seiner Schutzmission unterstützt haben soll.

Madame Royale mit ihrem Bruder Louis Joseph Xavier
Madame Royale mit ihrem Bruder Louis Joseph Xavier

Die Dunkelgräfin - Madame Royale oder doch jemand anderes?

Wer aber war die rätselhafte Dame und weshalb wurde sie so rigoros durch van der Valck alias Vavel de Versay vom gesellschaftlichen Leben abgeschottet? Schon zu ihren Lebzeiten rankte sich um ihre Person das Gerücht, sie hätte bourbonische Züge - zumindest behaupteten das die wenigen Menschen, die durch einen der ganz seltenen Zufälle doch mal einen Blick auf ihr unverhülltes Haupt erhaschten.

Die Tatsache, dass das Dunkelgrafenpaar augenscheinlich über sehr viel Geld und Beziehungen zu zahlreichen einflussreichen Personen verfügte, sich aber regelrecht verbarg und scheinbar freiwillig die Isolation suchte, ließ später die Theorie aufkommen, dass es sich bei der Frau um eine prominente Emigrantin aus Frankreich handeln müsse, die ein Geheimnis mit sich trug und aus Furcht vor dessen Entdeckung versteckt wurde. Eine gängige, wenngleich heftig umstrittene These lautet, es handele sich um Marie Thérèse Charlotte, die Tochter des französischen Königspaares Ludwig XVI. und Marie Antoinette, die beide während der Französischen Revolution 1793 hingerichtet worden waren. Nachdem im Alter von 10 Jahren auch ihr kleiner Bruder Charles Louis 1795 im Temple, dem Kerker der Königsfamilie, gestorben war, überlebte sie als Einzige ihrer Familie und kam 1795 frei. Die am 19. Dezember 1778 geborene Marie Thérèse war zu diesem Zeitpunkt knapp 17 Jahre alt. Trotz ihrer Jugend dürften ihr die Gefangenschaft, die Trennung von ihrer Familie und die bis zum Sturz der Jakobiner (1794) schikanösen Haftbedingungen stark zugesetzt haben. Jahrelang war sie der Willkür des Bewachungspersonals ausgesetzt; es tauchten sogar - allerdings nie bewiesene - Spekulationen auf, dass sie im Gefängnis schwanger geworden sei (möglicherweise durch eine Liebschaft mit einem Gefängniswärter oder durch eine Vergewaltigung).

Unter all diesen Umständen wäre es nicht verwunderlich, wenn ihre Gesundheit und vor allem ihre Psyche gelitten hätten und sie sich nicht mehr ihrer künftigen Rolle als Bourbonentochter auf internationalem Parkett gewachsen sah. Ihre habsburgischen Verwandten am Wiener Hof (Kaiser Franz II. war ihr Cousin) und überlebende Mitglieder der Bourbonenfamilie hegten  Heiratspläne zur Sicherung dynastischer Ansprüche mit ihr. Franz II., dessen Land sich gerade im Krieg mit Frankreich befand (1. Koalitionskrieg), drängte auf eine Überstellung von Marie Thérèse nach Wien im Austausch gegen französische Kriegsgefangene.

Aus mehreren Äußerungen Marie Thérèses ging allerdings deutlich hervor, dass sie ihre Heimat Frankreich nur sehr ungern verließ. An Madame de Chanterenne, ihre Gesellschaftsdame während der letzten Monate im Temple, schrieb sie: „Ich bin in einer nachteiligen und schwierigen Lage." Und die französische Regierung sah in Marie Thérèse sowohl im In- wie auch im Ausland ein Problem: hier als möglicher Kristallisationskern royalistischer Bewegungen, dort als Faustpfand bourbonischer oder österreichischer Forderungen. 

Die These von der Vertauschung

Madame Royale war zur Schachfigur im machtpolitischen Spiel geworden. Hier setzt auch die sogenannte „Vertauschungsthese" an. Danach soll bei der Übergabe der Königstochter von den Franzosen an die Österreicher am Stadtrand von Basel am 26. Dezember 1795 nicht Marie Thérèse, sondern eine Ersatzperson ihre Rolle übernommen haben. Die Vertauschung der beiden jungen Frauen müsste dann bereits kurz zuvor, noch auf französischem Boden, in der elsässischen Kleinstadt Hüningen (Huningue) stattgefunden haben. Als Austauschperson kommt ihre wahrscheinliche Halbschwester Ernestine Lambriquet (unter Umständen auch jemand anderes) infrage. Wer aber war Ernestine Lambriquet: Offiziell kam sie 1778 unter dem Namen Marie Philippine Lambriquet als Tochter eines Kammerdienerpaares zur Welt; allerdings gilt sie als illegitimes Kind des französischen Königs Ludwig XVI.

Als ihre Mutter 1788 starb, wurde sie von Marie Antoinette adoptiert. Unter ihrem Rufnamen Ernestine teilte sie dann bis 1792 das Leben der Königsfamilie in Versailles und in den Tuilerien und erhielt ihre Erziehung zusammen mit Marie Thérèse. Im Unterschied zur Königsfamilie, die im August 1792 im Temple eingekerkert wurde, entkam sie mithilfe von Gouvernanten, woraufhin sich ihre Spur zunächst verlor. Der österreichische Kaiser Franz II. hatte ausdrücklich gefordert, dass sie Marie Thérèse nach Wien begleiten sollte, aber in der Liste der Reiseteilnehmer tauchte Ernestine nicht auf. Die Pariser Regierung hatte zuvor mitgeteilt, dass sie unauffindbar sei (obwohl sie bei der Präfektur Versailles registriert war).

Marie Thérèse.
Marie Thérèse.
Tatsächlich wäre sie als Austauschperson geeignet gewesen, nicht nur, weil sie intime Kenntnisse über die Königsfamilie hatte, sondern auch, weil sie die höfische Etikette genau kannte. Dem steht gegenüber, dass historische Nachforschungen in Frankreich eine Heiratsurkunde (1810) und eine Sterbeurkunde (1813) auf ihren Namen zutage förderten. Verfechter der Vertauschungsthese haben jedoch gekontert, dass zu jener (unsicheren) Zeit das Leben unter falscher Identität verbreitet war und - auch angesichts der Tatsache, dass Marie Thérèse und ihre Begleitung für ihre Reise nach Hüningen falsche Papiere bei sich trugen - Dokumenten nicht immer die gewünschte Beweiskraft zugeschrieben werden kann.

Es wäre möglich, dass zum Zwecke der Vertuschung der ganzen Aktion solche Papiere von offiziellen Stellen ausgestellt wurden.

Natürlich könnte auch eine andere junge Frau die Rolle von Marie Thérèse übernommen haben oder aber die Vertauschung hat gar nicht stattgefunden. Eines ist jedoch bekannt: Bald nachdem die Prinzessin im Januar 1796 in Wien angekommen war, mehrten sich die Stimmen und Verdachtsmomente, dass sie nicht diejenige sei, für die man sie halten sollte. Ohne hier auf alle Details eingehen zu können, wird in diesem Zusammenhang z. B. darauf hingewiesen, dass ihr zuvor sanftes Wesen nun einem oft schroffen Verhalten gewichen sei, dass sie - gemessen an den früheren Bildern, die es von ihr gab - kaum wiederzuerkennen war, dass sie anstelle einer zuvor geraden zierlichen Nase plötzlich eine Hakennase hatte und dass sie die Beziehungen zu den meisten Vertrauten aus ihrer Zeit in Frankreich kappte (allerdings schirmte sie auch der Wiener Hof ab). Selbst die Handschrift hatte sich signifikant geändert. Das alles sind Indizien dafür, dass nicht Marie Thérèse, sondern eine andere junge Dame am Wiener Hof angekommen war.

Natürlich kann man einwenden, dass sich gerade in jungen Jahren - und Madame Royale war seit ihrem 13. Lebensjahr eingekerkert - Aussehen und Charakter ausformen und verändern können, aber diese großen Unterschiede lassen sich damit kaum erklären. 1799 heiratete die offizielle Madame Royale - nachdem sie die von Franz II. gewünschte Ehe mit seinem Bruder Erzherzog Karl abgelehnt hatte - ihren französischen Cousin Louis-Antoine, Herzog von Angoulême (1755-1844), der 1824 Dauphin (Thronfolger) wurde. 1814 konnte sie nach Frankreich zurückkehren und spielte in der Zeit der „Restauration" (1815-1830), besonders unter ihrem Onkel Ludwig XVIII. (König 1814-1824), eine wichtige politische Rolle. 1830 musste sie erneut ins Exil gehen und starb 1851 im Schloss Frohsdorf (Niederösterreich). Ihre letzte Ruhestätte fand sie in der Bourbonengruft des Franziskanerklosters Kostanjevica (Nova Gorica, Slowenien).

Wenn es tatsächlich zu einer Vertauschung gekommen wäre, wo hat sich dann aber die „vertauschte" Prinzessin aufgehalten, denn sie musste ja unerkannt bleiben und konnte demzufolge nur im Verborgenen leben. Einigen Historikern zufolge finden sich Spuren ihres zeitweiligen Aufenthaltes auf dem Schweizer Schloss Heidegg in Gelfingen (Kanton Luzern) und im elsässischen Straßburg. Spätestens als 1799 die Hochzeit zwischen Marie Thérèse und dem Herzog von Angoulême stattfand, durfte die „vertauschte Person" überhaupt nicht mehr in der Öffentlichkeit auftauchen, wenn es nicht zu schweren diplomatischen Verwicklungen kommen sollte.

Und hier kommt die These von den Freimaurern zum Zug. Der damalige Außenminister Charles-Maurice de Talleyrand (1754-1838) nutzte angeblich seine Freimaurerbeziehungen, um den Diplomaten (und möglicherweise den Freimaurern angehörenden) Leonardus Cornelius van der Valck unter Eid mit einer Mission zu betrauen, die auf unbestimmte Zeit den Schutz und das unerkannte Leben der ihm anvertrauten Dame vorsah. Viele der Daten und Fakten legten deshalb eine Interpretation nahe, die davon ausgeht, dass die von van der Valck unablässig begleitete Dunkelgräfin die französische Königstochter sei.

Ruhelose Reise durch Deutschland

Bis sie sich im kleinen Herzogtum Sachsen-Hildburghausen niederließen, reisten die Dunkelgräfin und van der Valck ruhelos durch Deutschland und verweilten meist nur kurze Zeit an einzelnen Orten. Üblicherweise waren sie mit einer Kutsche unterwegs, begleitet von ihrem treuen Diener Johann Philipp Scharr, der das Vertrauen van der Valcks besaß und sich als eine Art Faktotum um alles Wichtige für die Herrschaften kümmerte. Der weißhaarige, stets im Livree auftretende Scharr war schweizerischer Herkunft und stand - absolute Verschwiegenheit bewahrend - bis zu seinem Tod im Alter von 73 Jahren (1817) im Dienst des Dunkelgrafenpaares. Manche vermuten, dass er einst der Schweizergarde des französischen Königs angehörte.

Immer, wenn lokale Behörden in Bezug auf ihre Identität zu wissbegierig und neugierige Nachbarn zu aufdringlich wurden, verließen die Dunkelgräfin und van der Valck fluchtartig ihre jeweiligen Quartiere und zogen weiter. Nicht alle dieser Aufenthaltsorte konnten zweifelsfrei ermittelt werden, aber z. B. Schweinfurt (September 1801-April 1802) und Ingelfingen (Herbst 1803?April 1804). Nach einem fehlgeschlagenen Versuch, sich 1807 in Meiningen niederzulassen, ohne sich legitimieren zu müssen, war Hildburghausen das nächste Ziel.

Aufenthalt in Hildburghausen

Ohne am Stadttor kontrolliert worden zu sein, was mehr als ungewöhnlich war, kam die Kutsche des Dunkelgrafenpaares am 7. Februar 1807 gegen Mitternacht auf dem Hildburghäuser Marktplatz an. Die obere Etage des dort befindlichen „Gasthauses zum englischen Hof" wurde für die nächsten Monate das Domizil des Paares. Da sich hier nicht die gewünschte Abgeschiedenheit sichern ließ, zogen die beiden im Sommer 1807 in das unweit gelegene herzogliche Gästehaus, anschließend im Frühjahr 1808 in das in der Neustadt gelegene und besser vor neugierigen Blicken geschützte „Radefeldsche Haus". Die Herzogin Charlotte von Sachsen-Hildburghausen soll bei der zögerlichen Vermieterin persönlich als Fürsprecherin aufgetreten sein. Auch danach machte sich immer wieder bemerkbar, dass die Dunkelgräfin und ihr Begleiter den Schutz des Hildburghäuser Hofes genossen. So sicherte Herzog Friedrich in einem oft als „Schutzbrief" bezeichneten Schreiben vom 12. März 1824 van der Valck seine besondere Protektion zu, wobei er festhält, dass diese schon seit „seinem Eintritte in unser Land" bestanden habe.

Ein Grund dafür könnte gewesen sein, dass das Herzogspaar genau wusste, wer in ihrem Residenzstädtchen Quartier genommen hatte. Immerhin soll die Mutter von Herzogin Charlotte eine Jugendfreundin Marie Antoinettes gewesen sein und ihre Tochter 1780 zu einem mehrmonatigen Besuch nach Paris und Versailles mitgenommen haben, wo auch diese die bourbonische Königsfamilie kennengelernt hat. Stellt sich allerdings zu Recht die Frage, warum das Dunkelgrafenpaar dann erst nach einer fast acht Jahre langen Odyssee den Weg nach Hildburghausen fand, zumal das Duodezfürstentum Sachsen-Hildburghausen kurz zuvor (1806) dem unter napoleonischer Kontrolle stehenden Rheinbund beigetreten war und sich dadurch die Sicherheitslage für französische Flüchtlinge deutlich verschlechterte.  

Auf jeden Fall aber war die Anwesenheit des zahlungskräftigen Emigrantenpaares ein Vorteil für den zu dieser Zeit in finanziellen Nöten lebenden Hildburghäuser Hof. Auch als Herzog Friedrich 1826 Hildburghausen verlassen musste, weil er nach dem Aussterben der Dynastie Sachsen-Gotha-Altenburg und der damit verbundenen Neuordnung der Herzogtümer das Herzogtum Sachsen-Altenburg übernahm und Hildburghausen an das Herzogtum Sachsen-Meiningen fiel, blieb der Schutz weitgehend gewahrt. Eine zusätzliche Stärkung erhielt die Position van der Valcks, als er wegen seiner der Stadt erwiesenen Wohltätigkeit am 24. Mai 1827 unter dem Namen „Herr de Vavel" zum Ehrenbürger von Hildburghausen ernannt wurde.

Leben im Schloss Eishausen

Ende September 1810 konnte das Dunkelgrafenpaar das im herzoglichen Besitz befindliche Schloss Eishausen beziehen, die letzte Station der beiden nach ihrer jahrelangen Irrfahrt. Dieses Herrenhaus, das im wenige Kilometer südlich von Hildburghausen liegenden Dorf Eishausen stand, war ein schlichtes dreigeschossiges Gebäude, das van der Valck gleich nach dem Einzug seinen üblichen Sicherheitsvorkehrungen unterzog. Er und die Dunkelgräfin zogen in das Obergeschoss; im Haus lebten noch der Diener Scharr und die Köchin Johanna Weber. Zusätzlich trat das Ehepaar Johann und Katharina Schmidt in den Dienst des Dunkelgrafenpaares; es wurde zunächst v. a. mit Botengängen beauftragt, übernahm aber später auch andere Arbeiten. Das anfangs noch im Haus wohnende Verwalterehepaar namens Handschuh musste bald ausziehen.

Hinter der bescheidenen Fassade des Schlosses Eishausen wurde ein gehobener Lebensstil gepflegt. Der Dunkelgraf gab enorme Summen für Essen und Trinken, Mobiliar und besonders auch für die sich stets nach der neuesten Mode richtende Kleidung der Dunkelgräfin aus. Vieles davon wurde über das Handels- und Versandhaus Goullet in Frankfurt am Main bezogen. Van der Valck hatte (allerdings unter dem Namen Vavel de Versay) zudem eine umfangreiche Korrespondenz und ließ sich zu seiner Information zahlreiche Journale und Bücher kommen. Im Laufe der Jahre erwarb er verschiedene Grundstücke und Häuser in der näheren Umgebung von Eishausen und trat auch als sehr großzügiger Spender für Arme auf. Man schätzt, dass das aufwändige Leben im Schloss jährlich zwischen 7.000 und 9.000 Gulden kostete; in den 35 Jahren bis zum Tod van der Valcks 1845 soll der Haushalt zwischen 300.000 und 500.000 Gulden verschlungen haben (was heute einem Betrag von etwa 12 bis 20 Millionen Euro entspräche).

Abgesehen von Ausfahrten in einer geschlossenen Kutsche und regelmäßigen Spaziergängen spielte sich das Leben des Paares fast ausschließlich in den Räumen des Schlosses ab, wobei der Dunkelgraf alles daran setzte, dass die Dienerschaft so selten wie möglich die Dame zu Gesicht bekam. Selbst das Essen ließ er in einem Vorzimmer abstellen, um es dann der Dunkelgräfin selbst zu servieren. Obwohl die beiden in ihrer selbst gewählten Einsamkeit fast ständig zusammen waren, soll sie keine Liebesbeziehung verbunden haben; auch der Verdacht mancher Zeitgenossen, van der Valck hätte die Dunkelgräfin in Gefangenschaft gehalten (so soll sich vor der Tür ihres Zimmers eine Quereisenstange befunden haben), wurde von der Dienerschaft verneint, obwohl der Dunkelgraf ein fast überzogen wirkendes Netz von Sicherheitsvorkehrungen im und um das Schloss errichtete. Offenkundig setzte er alles daran, dass seine Schutzbefohlene unentdeckt und ungefährdet leben konnte. Die Spaziergänge der Dunkelgräfin verfolgte er stets vom Fenster aus, oft mit dem Fernglas oder gelegentlich auch mit einer Pistole in der Hand. Zudem versuchte er, die offenbar sehr schreckhafte Dame vor jeglichem Lärm zu bewahren. Exemplarisch dafür war, dass er das lautstarke Neujahrsschießen der Jugendlichen in Eishausen behördlich unterbinden lassen wollte; allerdings führte erst eine ansehnliche Spende van der Valcks für die Dorfkirmes zum Erfolg. Überliefert ist auch, dass die Dienerschaft für absolute Ruhe im Haus zu sorgen hatte und selbst die Türen leise geschlossen werden mussten. Dass die selbstgewählte isolierte Lebensweise mitunter auch skurrile Züge annahm, zeigt die rund 15 Jahre gepflegte schriftliche Korrespondenz van der Valcks mit dem ehemaligen Hofprediger Heinrich Kühner, der 1812 Dorfpfarrer von Eishausen wurde. Obwohl Schloss und Pfarrhaus auf Sichtweite lagen und die beiden nahezu täglich mehrmals schriftliche Nachrichten auf dem Botenweg hin- und herschickten, haben die Männer nie persönlich miteinander gesprochen. Diese „Zettelfreundschaft", die sich zu einem hochintellektuellen Gedanken- und Erfahrungsaustausch entwickelte, dauerte bis zum Tod Kühners 1827; danach setzte van der Valck diese Konversation mit der Witwe Kühners fort.

Um 1817 mietete van der Valck einen an das Schloss angrenzenden Grasgarten, dessen Bepflanzung mit Hecken ihm wohl nicht genügend Sichtschutz versprach, weshalb er ihn zusätzlich mit einem hohen Bretterzaun einfassen ließ. Diesen Garten nutzte die Dunkelgräfin fortan für ihre Spaziergänge. 1833 kaufte der Dunkelgraf auf dem Hildburghäuser Stadtberg das in einem Berggarten gelegene Haus „Schulersberg". Das Anwesen entwickelte sich schnell zum Lieblingsaufenthaltsort der Dunkelgräfin, auch wenn sie dort nie über Nacht blieb.

In den letzten Lebensjahren der Dunkelgräfin verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand zusehends; sie litt u. a. an einer schmerzhaften Erkrankung im Zahn- und Kieferbereich. Zwar konsultierte man in Notfällen Ärzte; diese konnten die Dunkelgräfin aber nicht direkt untersuchen, sondern wurden in einem Nebenzimmer vom Grafen - bei dessen wiederholter Rücksprache mit der Kranken - über die Symptome ihres Leidens informiert und verschrieben auf dieser Basis dann Medikamente.

Von einem Schwächeanfall im Oktober 1837 erholte sich die Dunkelgräfin nicht wieder. Der Tod ereilte sie am 25. November 1837 gegen 22 Uhr. Dem Wunsch des Dunkelgrafen, sie auf ihrem Lieblingsplatz auf dem Stadtberg beisetzen zu lassen, stand die unumstößliche Forderung der Behörden entgegen, zuvor die Identität der Toten preiszugeben. Noch vor Ort erklärte van der Valck, dass die Dame nicht mit ihm verheiratet gewesen sei. In einem dem kirchlichen Oberkonsistorialrat Dr. Carl Ludwig Nonne zugestellten Schreiben gab er dann Folgendes zur ihrer Person an: „Sophia Botta, ledig, bürgerlichen Standes, aus Westphalen, 58 Jahre alt".  In der Frühe des 28. November 1837 geleitete ein Trauerzug - ohne den Dunkelgrafen und ohne einen Geistlichen - die Verstorbene zu ihrer letzten Ruhestätte auf dem Hildburghäuser Stadtberg. Das Grab wurde wenig später mit Quadersteinen ummauert.

Mit dem Tod der Dunkelgräfin büßte das Leben auch für van der Valck weitgehend seinen Sinn ein. Wie er der Pfarrerswitwe Kühner in einem seltenen Anflug von Offenheit mitteilte, sei seine Lage „immer unerträglicher; es ist keine getrennte Ehe; es ist mehr, es ist eine Zerreißung eines zusammengewachsenen Geschwisterpaares; das Eine kann nicht ohne das Andere fortleben." Inzwischen war van der Valck 68 Jahre alt und selbst schwer krank. Anfang Juni 1838 besuchte er das erste und zugleich letzte Mal das Grab seiner langjährigen Gefährtin. Entgegen ursprünglichen Plänen, Eishausen zu verlassen, blieb van der Valck im Schloss. Kurz vor seinem Tod am 8. April 1845 im Alter von 75 Jahren soll er noch zahlreiche Papiere verbrannt haben. Auch er behütete sein Geheimnis bis zum Ende. Begraben wurde er auf Friedhof von Eishausen. Das Schloss Eishausen existiert nicht mehr, es wurde 1874 wegen Baufälligkeit abgerissen.

Ein Wissenschaftsprojekt soll Licht ins Dunkel bringen

Angeregt vom 2005 gegründeten Geschichtsverein „Interessenkreis Madame Royale" gab der Mitteldeutsche Rundfunk 2012 ein Wissenschaftsprojekt in Auftrag, das mittels DNA-Analyse und Gesichtsrekonstruktion genauere Erkenntnisse über die Identität der Dunkelgräfin erbringen sollte. Dazu fiel die - unter den Hildburghäuser Bürgern nicht unumstrittene - Entscheidung, das Grab der Dunkelgräfin zu öffnen und die Gebeine für die Durchführung der wissenschaftlichen Untersuchung zeitweilig zu entnehmen. Dies geschah im Oktober 2013 und war (nach einer ersten im Juli 1890) bereits die zweite Öffnung dieses Grabes. Mit der Ausstrahlung einer MDR-Geschichtsdokumentation („Die Dunkelgräfin von Hildburghausen") im Juli 2014 wurde das Ergebnis der wissenschaftlichen Analyse publik, nämlich dass die Dunkelgräfin nicht „Madame Royale" sein kann. Daraufhin benannte sich der „Interessenkreis Madame Royale" umgehend in „Interessenkreis Dunkelgräfin" um.

Ein weiterhin ungelöstes Rätsel

Allerdings ist mit diesem Negativbefund das Geheimnis der Dunkelgräfin keinesfalls geklärt; vielmehr erscheint nun alles noch rätselhafter als zuvor. Denn wenn die Dunkelgräfin nicht die französische Königstocher Marie Thérèse Charlotte gewesen ist, wer war sie dann und warum wurde um sie herum diese aufwändige Kulisse aus versteckter Eleganz und hoch gesicherter Abgeschiedenheit errichtet? Und wenn van der Valck nicht der unter Eid stehende Beschützer der französischen Königstochter gewesen ist, was hat diesen talentierten Diplomaten und wohlhabenden Mann dazu bewogen, fast vier Jahrzehnte seines Lebens ausschließlich dem Schutz dieser Frau zu widmen, hätte er doch als vermögender Mann ein selbstbestimmtes Leben mit vielen Freiheiten führen können? War alles nur Theater bzw. Ausdruck der exzentrischen Lebensweise zweier Sonderlinge?

Oder der Versuch, eine falsche Fährte zu legen? Es gibt auch Thesen, die das zurückgezogene Leben der Dunkelgräfin  „hinter Vorhängen" und ihre Verschleierung nicht mit dem Schutz ihrer Identität, sondern mit speziellen Krankheiten zu erklären versuchen: Sie könnte unter einer - volkstümlich als „Lichtallergie" bezeichneten - Hauterkrankung (Photodermatose) gelitten haben, die sie lichtscheu werden ließ und ihr nur stundenweise (und dann verschleiert) Spaziergänge im Freien erlaubte. Auch über eine Augenerkrankung oder eine chronische Migräne mit einer Überempfindlichkeit gegen Licht und Lärm wurde spekuliert.

Doch wer kommt nun, da die einleuchtendste Theorie offiziell als widerlegt gilt, für des Rätsels Lösung noch infrage? Der Kreis der betreffenden Damen ist klein geworden. Eine Spur, die man verfolgen kann, ist die von Sophie/Sophia Botta. Diesen Namen hatte van der Valck 1837 gegenüber den Behörden angegeben, als sie Auskünfte über die Identität der verstorbenen Dunkelgräfin verlangten. Hielt man dies lange für eine Falschangabe, weiß man inzwischen, dass sich ein Kaufmann namens Botta aus Minden in Westfalen zeitweilig in Hildburghausen aufhielt. Ob er allerdings eine Tochter oder eine Frau dieses Namens hatte und wie eine mögliche Verbindung zur Dunkelgräfin hergestellt werden kann, ist unklar. Ein weiteres Mal taucht der Name Sophie Botta im Zusammenhang mit dem österreichischen Kaiser Joseph II. auf: Dessen Liebesaffäre mit einer Wilhelmine von Botta entstamme angeblich eine Tochter namens Sophie, die nach dem Tod ihrer Mutter von der Schwester Josephs, Marie Antoinette, am französischen Königshof aufgezogen worden sei und dann in den Wirren der Französischen Revolution an der Seite van der Valcks nach Hildburghausen gekommen wäre. Eine neuere Theorie geht davon aus, dass es sich bei der Dunkelgräfin um eine illegitime Tochter des späteren Königs Friedrich Wilhelm II. von Preußen (1744-1797) und seiner Mätresse Wilhelmine Enke (1753-1820, ab 1796 Gräfin von Lichtenau) handeln könne. Diese um 1771 geborene Frau wäre nach der Trennung von ihrem Ehemann in Holland nach Spanien gereist, hätte dort den ehemaligen Schweizer Gardesoldaten Sqarre (wohl der spätere Diener Scharr) getroffen, der sie mit van der Valck zusammenbrachte; über Ingelfingen seien diese drei Personen - angeblich durch Vermittlung der Königin Luise von Preußen (deren Schwester Charlotte Herzogin von Sachsen-Hildburghausen war) - dann in das Residenzstädtchen Hildburghausen gekommen und später nach Eishausen gezogen. Die Abgeschiedenheit sollte die Frau vor Nachstellungen ihres Mannes schützen.

Es gibt noch einige weitere Theorien, aber allen ist mehr oder weniger gemeinsam, dass sie recht vage bleiben und eigentlich auch kaum die ständige Verschleierung der Dunkelgräfin und ihr jahrzehntelanges Einsiedlerleben plausibel machen. Ob die bei der wissenschaftlichen Untersuchung gefundene, ausgesprochen seltene mitochondriale DNA durch weitere DNA-Vergleiche und genealogische Recherchen irgendwann zur Feststellung der Identität der Dunkelgräfin führen wird, ist wohl eher eine Frage des Zufalls und gleicht der sprichwörtlichen Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Die Forschung steht also in mancherlei Hinsicht wieder am Anfang und muss die ausgetretenen Wege verlassen, um durch weitere Erkenntnisse doch noch Licht in den Fall der Dunkelgräfin zu bringen.

Quellen:

- Thomas Meyhöfer: Das Rätsel der Dunkelgräfin von Hildburghausen. Bilanz einer 160-jährigen Forschung. Manuskript des Vortrags auf dem 7. Symposium zu Dunkelgraf und Dunkelgräfin vom 7. bis 9. September 2007

- Carolin Philipps: Die Dunkelgräfin. Das Geheimnis um die Tochter Marie Antoinettes. Piper Verlag, München 2012

- Helga Rühle v. Lilienstein/Hans-Jürgen Salier: Das Geheimnis von Hildburghausen. Auf den Spuren der Dunkelgräfin. Taschenbuchausgabe, Salier Verlag, Leipzig und Hildburghausen 2012

- http://www.dunkelgraefin.de/ (Webpräsenz des „Interessenkreises Dunkelgräfin")

 

Bildquellen:

Titelbild Marie Antoinette und ihre Kinder, 1785 von Adolf Ulrik Wertmüller (1751-1811), gemeinfrei 

Marie Thérèse. Gemälde von Heinrich Füger, um 1796, gemeinfrei 

Madame Royale mit ihrem Bruder Louis Joseph Xavier, Élisabeth Vigée-Lebrun (1755-1842), gemeinfrei

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