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Johann Joachim Winckelmanns Wirken auf Schloss Nöthnitz und in Dresden

Klaus-Werner Haupt

Nach rastlosen Jahren findet Johann Joachim Winckelmann auf dem nahe Dresden gelegenen Schloss Nöthnitz eine Anstellung als Bibliothekar. Die bünausche Bibliothek und die Kunstsammlungen der nahen Residenzstadt ermöglichen Kontakte mit namhaften Gelehrten. In ihrem Kreise erwirbt der Dreißigjährige das Rüstzeug für seine wissenschaftliche Karriere. Sein epochales Werk „Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst“ (1755) lenkt den Blick auf die Kunstsammlungen Augusts III. und ebnet den Weg nach Rom.

Winckelmanns Briefe, von denen mehr als fünfzig aus den sächsischen Jahren überliefert sind, lassen seinen Karrieresprung, aber auch seine persönlichen Nöte vor unseren Augen lebendig werden. Zwei Gastbeiträge über die jüngere Geschichte des Schlosses und die Visionen der Freunde Schloss Nöthnitz e. V. runden den Jubiläumsband ab.

Die erste Heilige

Die erste Heilige

Florian Russi

Hermann war der mächtige Fürst der Hermanduren, eines Germanenstammes, der im heutigen Thüringen lebte. Von den Duren sollen die Thüringen ihren Namen haben. Duren heißt: die Beständigen oder die Tapferen.

Tapfer hatten die Duren sich gegen die Franken zur Wehr gesetzt, die versuchten, ihr Land zu erobern. Als den Fanken dies mit Hilfe der Sachsen dann doch gelang, brachten sie auch das Christentum mit. Scharenweise strömten Missionare ins Land. Hermann und seine Familie ließen sich taufen.

Hermann hatte einen Sohn und vier Töchter. Die drei älteren Töchter hatte er mit den Söhnen anderer Fürsten verlobt. Für die Jüngste, die seit ihrer Taufe Agata, das heißt: die Gute, genannt wurde, fand sich kein geeigneter Prinz. Die Mitgift hätte nicht ausgereicht.

So gab Vater Hermann das Mädchen in ein fränkisches Kloster. Dort kümmerten sich Nonnen um das Kind. Sie erzogen es streng und bereiteten es auf ein Leben in Armut und Keuschheit vor.

Einige Jahre später starb unerwartet Hermanns dritte Tochter Genoveva. Mit dem Fürstensohn Odulf, dem er Genoveva zur Frau versprochen hatte, verlobte Hermann nun an ihrer Stelle seine Tochter Agata. Aus diesem Grund entsandte er seine Leibwache zu dem fränkischen Kloster, damit sie seine Jüngste dort abholen sollte.

Als die Leibwache den Befehl des Vaters verkündete, weinten Agata und alle Nonnen mit ihr. Doch gehorsam beugten sie sich dem väterlichen Willen.

Zur Begrüßung gab Hermann auf dem Hof seines Schlosses ein großes Fest. Bei Einbruch der Dunkelheit schickte er Agata zu Bett, die übrige Gesellschaft feierte bei Fackelschein oder im Dunkeln weiter.

Gegen Mitternacht stand der Schlosshof plötzlich in strahlendem Licht. Agata war zurückgekehrt und verbreitete um sich eine gewaltige, hell glänzende Aura. Sie hatte ihren Vater etwas fragen wollen, doch nun war sie entsetzt über das Lotterleben, das sie vor sich sah. Hermann saß mit einigen Leibwächtern beim Glücksspiel. Alle waren betrunken und rülpsten unentwegt vom übermäßigen Essen.

Da trat Agata vor sie hin und sagte in feierlich strengem Ton: »Glücksspiel ist Teufelswerk. Wer sich daran beteiligt, macht sich anfällig für die Versuchungen des Bösen. Auch die Völlerei ist eine schwere Untugend. Denkt an Euer Seelenheil und beendet dieses sündige Treiben. «

Agatas Auftreten und das Leuchten ihres Körpers hatte sofort Ernüchterung in die Runde gebracht. Alle, auch der Vater, folgten ihrer Anweisung und verließen die Stätte der Sünde. »Ein Wunder ist geschehen«, sagten sie und waren überzeugt, dass aus Agata eine Heilige geworden war.

Wenig später betrat Agata einen Nebenraum der Küche, in dem eine Dienerin gerade allerlei Kräuter stampfte und mischte. »Warum tust du das? «, fragte Agata erbost, »ich sehe, dass du giftige Kräuter unter die anderen mischst.« »Das mache ich immer, wenn dein Vater unliebsame Gäste erwartet. So ist es Hermanns Wille«, antwortete die Frau.

»Von jetzt an wirst du nie wieder giftige Kräuter verwenden«, sagte Agata und warf die Mixturen ins Feuer.

Als kurz darauf Hermann seine Leibgarde um sich scharte, um einem mit ihm verfeindeten Sippenführer des Garaus zu machen, trat Agata vor sie, hob ihre rechte Hand und sprach: »Lasst ab von eurem Vorhaben. Wer einen anderen Menschen tötet, begeht eine zum Himmel schreiende Sünde. «

Widerwillig ließ Hermann den geplanten Rachefeldzug abbrechen. Seine Tochter wurde ihm unheimlich, und er begann, sich vor ihr zu fürchten. Auch seine Vasallen waren besorgt. Agata achtete darauf, dass niemand mehr log oder intrigierte und stellte jeden offen zur Rede, der sich darin schuldig gemacht hatte.

Nur die kleinen Leute bei Hofe liebten Agata und verehrten sie. Mehrmals am Tag füllte sie Körbe mit Speisen und Getränken und brachte sie zu den Armen und Hungernden. Ohne Rücksicht auf ihre eigene Gesundheit pflegte sie Kranke, salbte und verband ihre Wunden, Eiterbeulen oder Hausausschläge.

Eines Tages entdeckte si, dass die Keller des Schlosses voller Gefangener waren, die unter unwürdigsten Umständen darben und leiden mussten. Unter ihnen befanden sich auch vier Männer aus der Leibgarde ihres Vaters. Man nannte sie »die Radaubrüder«, weil sie ständig lärmten und sich daneben benahmen. Immer wieder, wenn sie es zu bunt getrieben hatten, wurden sie ins Schlossverlies geworfen. Nur weil Hermann nicht auf ihren ungeheuren Kampfesmut verzichten wollte, hatte er sie noch nicht köpfen lassen.

Nicht nur, dass Agatas Körper bei Dunkelheit in glänzendem Licht erstrahlte, es hielten auch kein Schloss und kein Riegelvor ihr Stand. Ungehindert konnte sie jederzeit jeden verschlossenen Raum betreten. So gelangte sie auch ins Gefängnis und versuchte, dessen Insassen zu trösten. »Wasser, Wasser« rief einer, und sie gab ihm zu trinken. »Hunger, Hunger« ein anderer, und sie gab ihm zu essen. Auch die vier Radaubrüder bedachte sie mit Brot, Gemüse und Bier. Doch die vier hörten nicht mit ihrem Jammern.

»Was fehlt euch? «, fragte Agata. »Wir leiden Brunft«, riefen die vier wie aus einem Munde. »Was ist das? «, wollte die Fürstentochter wissen. »Komm näher, damit wir es dir zeigen können«, erwiderten die vier.

Agata war verwirrt. Sie musste erkennen, dass es sich um ein schwerwiegendes Leiden handelte. Nie hatten ihr die Nonnen davon erzählt. Doch ließ es sich offenbar lindern. Als Hermann die vier Radaubrüder vorzeitig begnadigen wollte, bestanden diese jedenfalls darauf, die volle Zeit der über sie verhängten Strafe abzubüßen.

Hermanns Vasallen und Hofschranzen hörten jedoch nicht auf, sich über den frommen Lebenswandel seiner Tochter zu beschweren. Hermann hielt mit ihnen einen Rat ab. Sie gelangten zu der Auffassung, dass man verhindern müsse, dass außerhalb von Klostermauern jemals wieder jemand heilig werden könne.

Es nahte der Tag der geplanten Hochzeit zwischen Agata und dem Prinzen Odulf. Doch der Leibarzt des Fürsten, der Agata auf ihre Ehetauglichkeit untersuchte, musste feststellen, dass sie bereits schwanger war. Diesmal ließ Hermann allen vier Radaubrüdern den Kopf abschlagen.

Die Hochzeit wurde eiligst abgesagt. Stattdessen beschloss Hermann, in Artern ein Kloster zu stiften. Agata und viele andere Töchter aus ehrenwerten Familien sollten dort Einzug halten. Das Kloster wurde ohne Fenster und Türen gebaut. Nachdem Agata und ihre Begleiterinnen es erstmals betreten hatten, ließ Hermann auch das Eintrittstor zumauern. Niemand sollte entweichen können, und der Glanz der eigenen Aura musste das Tageslicht ersetzen.

Das Kloster ist längst verfallen. Nur ein einziger Stein davon ist übrig geblieben. Irgendwo am Rande von Artern ist er noch zu finden.


*****

Bildquellen:

Vorschaubild: Chor der heiligen Jungfrauen: 1467, Urheber: Jakub of Sącz; Quelle: Stefania Krzysztofowicz-Kozakowska, Franciszek Stolot (2000). Historia malarstwa polskiego. Ryszard Kluszczyński via Wikimedia Commons Gemeinfrei.

Nonne im Kreuzgang eines Klosters, Photographie, 1930, Urheber: Doris Ulmann; Quelle: >http://lcweb2.loc.gov/cgi-bin/query/h?pp/PPALL:@field(NUMBER+@1(cph+3a44521))< via Wikimedia Commons Gemeinfrei.

Kloster Val Sainte Marie um 1840, Urheber: unbekannt via Wikimedia Commons Gemeinfrei.

Textquellen:

Entnommen aus: Russi, Florian: Der Drachenprinz, Weimar: Bertuch-Verlag, 2004, S.59-61.

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